Texte

Auszug aus der Einführung zur Premiere am 22.11.2012 in der Stadtgalerie Kiel

Ein wesentliches Formelement von Kai Zimmers Revolutions-Film besteht darin, die Materialien, aus denen er besteht, als solche auszustellen und ihre Ursprungsform zu bewahren. Natürlich benutzt Zimmer Quellen und Dokumente – seine Hauptquelle ist ein Glücksfund, wenn man so will: das Tagebuch des Schiffbauingenieurs Nicolaus Andersen, auf dessen Aufzeichnungen zwischen August 1917 und November 1918 der Filmessay basiert. Zu dieser Hauptquelle, die der Filmemacher selbst im monotonen Stil vorliest, kommen Fotodokumente – allem Anschein nach Fotos aus Privatarchiven und Postkarten. Schließlich mischen sich Filmaufnahmen aus dem heutigen Kiel und dem Umland in die Montagen.

Nirgends wird in und mit diesem Materialbestand der Versuch einer authentischen Realitätsnachschöpfung unternommen; die Materialien – alte Fotos und Postkarten, neue Filmsequenzen und der bearbeitete Text des Schreibers Andersen – bleiben, was sie sind und formen sich zu einer Collage, deren Ergebnis dann nicht ein scheinbar lückenloses Panorama der Novembertage bilden, sondern ein höchst lückenhaftes, fragmentarisches, auf die persönliche Erlebnisperspektive eines Einzelnen heruntergebrochenes Puzzleteil eines historischen Prozesses.

Das wiederkehrend verwendete Stilmittel, viele der Postkarten und Fotos ins Gras zu legen, ist gerade so funktionalisiert: Die Fotos sind Fundstücke, ihres Herkunftskontextes entrückt, in eine neue Umgebung gefügt, wo sie auf ihren Gehalt untersucht werden müssen und keinesfalls für sich selbst sprechen. Was an neueren, rekonstruierten Materialien hinzutritt, ist erkennbar neu erzeugt, heterogen zum historischen Material und fügt sich nicht nahtlos ein, will nicht harmonisch passen, sondern transportiert den Bruch mit sich. Das Bild, das der Zuschauer sich aus dem ganzen fügt, ist so immer ein gefügtes, gebautes – eines, das seinen Interpreten immer mitdenkt.

Der Text, den Kai Zimmer vorträgt, ist durch die Bearbeitung des Filmemachers einigermaßen spröde geworden. Es wird nicht viel berichtet: das Wetter, die Temperatur, Besuche bei Familienmitgliedern, gelegentlich Meldungen von der Front, und immer wieder seine Kontakte zu P., seiner, mit der er offenbar bereits seit zehn Jahren verlobt ist. Auffällig sind die Zahlen der Toten, die er geradezu minutiös auflistet, wenn etwa auf der Werft ein Arbeitsunfall passiert. Die Zahl der Toten und Verletzten wird dieser Andersen auch protokollieren, wenn er die Vorgänge des Matrosenaufstandes aufschreibt.

Es sind dies die Spitzen, die seine Aufmerksamkeit lenken und seinen Bericht skandieren; jedenfalls mehr als es die Vorgänge der Arbeiter und Gewerkschaftler. Zimmer sammelt solche Schlüsselbegriffe heraus und stellt sie zu Wortlisten zusammen, die das Prinzip der Collage wieder aufgreifen. Unweigerlich beginnen wir als Zuschauer, die Leerstellen in diesen Listen zu füllen. Kann es sein, dass sich hinter den Alltagsskizzen des Werftingenieurs ein Panorama des Revolutionsjahrs verbirgt? Fallen hier die sensiblen Begriffe, die es braucht, um das historische Tableau zu erstellen?

Da wird womöglich jeder seine eigene Antwort geben. Für den einen mag die erlebte Geschichte des Nicolaus Andersen einen schlüssigen Zugang zum Matrosenaufstand eröffnen, für den anderen stellen sich vielleicht mehr Fragen als Antworten. Dies aber, so scheint es, ist die eigentliche Leistung von Kai Zimmers Film: Der Film beansprucht nicht, die eine, gültige, erschöpfende Quelle entdeckt zu haben und auszuwerten; er beansprucht nicht die absolute Deutungshoheit und Beweiskraft; er zeigt vielmehr auf eine ganz rohe und ungeschminkte Weise, was Geschichte ist: ein ungerichteter Verlauf, ein unabgeschlossener Prozess, eine kontingente Folge von Ereignissen, zu denen sich kaum ein Standpunkt findet, von dem aus sich ein Ganzes erkennen lässt.

Fotos und Filme, so habe ich anzudeuten versucht, werden zu oft dazu genutzt, Faktizität herzustellen. Zimmer geht in diesem Film den entgegengesetzen Weg: Bilder und Filme sind immer nur Bruchstücke eines größeren Ganzen, das immer wieder aufs Neue gedacht werden muss.

(Dr. Eckhard Pabst, Programmleiter Kino in der Pumpe, Kiel)